Butterkerzen und Schlachtfelder

Alice Grünfelder in Tibet (Foto: Rainer Kehrt)
Alice Grünfelder in Tibet (Foto © Rainer Kehrt)

So manche mögen sich wünschen, Alice Grünfelder würde sich endlich um ihre eigenen Dinge kümmern. Doch genau das tut sie längst: sie engagiert sich für das, was ihr am Herzen liegt und schwimmt dabei immer schön gegen den Strom.Sie redet, wo andere schweigen, sie wundert sich, wo andere sich in der Gewohnheit eingerichtet haben, und sie engagiert sich, wo andere längst aufgegeben haben, sogar einige derer, für die sie sich engagiert.

Alice Grünfelder ist vieles: sie ist Lektorin, Literaturvermittlerin, Einzel- und Teamkämpferin, Herausgeberin, Autorin, Übersetzerin, Buchhändlerin und Festivalkuratorin. Und sie ist vor allem eins: ein Mensch, dem die Liebe zu China nicht den Verstand vernebelt hat. Mit ihrer erstaunlichen und für manche reichlich unbequemen Mischung aus Pragmatismus und Idealismus kämpft sie seit vielen Jahren an mehreren Fronten, und obwohl sie weiß, dass es immer schwieriger wird, sagt sie: „Ich kann es einfach nicht lassen.“

Die gebürtige Schwäbin studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik und ging anschließend mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für zwei Jahre nach Chengdu, einer Metropole in Sichuan an der Grenze zu Tibet. Sie hat als Dolmetscherin in Osttibet gearbeitet und versucht noch heute, möglichst einmal im Jahr nach Asien zu fliegen. Wenn sie könnte, würde sie sofort nach China ziehen. „Ich mag das chinesische Volk“, sagt sie, „und ich fühle mich in China sehr wohl.“ Und sie fügt hinzu: „Ich rege mich natürlich auch jeden Tag über diese ganzen Misstände auf, aber es ist doch schon eine große Grundsympathie da für dieses Land und diese Kultur.“

Ob wir selbst nun Sympathie hegen für Asien oder nicht: im Allgemeinen haben wir vom Fernen Osten ganz bestimmte Vorstellungen, die hauptsächlich, wenn wir ganz ehrlich sind, aus Klischees bestehen, denn die wenigsten von uns haben dort gelebt und können wirklich von sich behaupten, Land und Leute zu kennen. Nun ist ein Klischee ein Vorurteil, eine pauschale, festgefahrene Vorstellung. Und natürlich ist das Bild, das wir von China und Tibet haben, eine solche pauschale Vorstellung. Denn die meisten von uns waren noch nie dort und haben ihr Wissen über diese beiden Länder vor allem aus den Medien.

Wer Joris Luyendijks Buch „Wie im echten Leben“ gelesen hat, weiß, dass auch die Medien nur mit Wasser kochen, dass aus Kostengründen manche Journalist_innen oft für mehrere Länder zuständig sind, ob sie sie kennen oder nicht. So kann es kommen, dass wir in der Presse Berichte aus Iran lesen von Journalist_innen, die eigentlich in Beirut stationiert sind und Iran gar nicht kennen; oder wir lesen etwas von „unserem Korrespondenten für Afrika“, so als sei Afrika ein kleines Land wie Dänemark und kein riesiger Kontinent mit aktuell 55 Ländern. Für Berichte gibt es wenig Zeit, die Nachrichten warten nicht, sie müssen gefüllt werden, also muss ein Bericht pünktlich fertig sein. Kaum Zeit für ernsthafte Recherche.

Hinzu kommt, dass sich das Motto der 80er-Jahre-Hymne von Markus, „Ich will Spaß“, in alle kulturellen Bereiche ausgeweitet hat. Spaß bringt Zuschauer_innen, Leser_innen, Käufer_innen. Nur wenig darf die Wohlfühlgesellschaft stören. Nur wenig darf ablenken davon, dass das Ich jetzt im Mittelpunkt steht, dass nur noch das gute Gefühl zählt. Neue Wege wurden gesucht und gefunden. Desillusioniert aus der Kirche ausgetreten wurde vielfach neues Heil im Buddhismus gefunden. Des elterlichen Gelsenkirchener Barocks überdrüssig geworden, hielt das Feng Shui Einzug in deutsche Wohnzimmer. Übersättigt von deutscher Kohlroulade experimentierte man fortan mit Tofu im Wok. Asien wurde chic. Geprägt wurden die Bilder hinter diesem Wandel durch die Medien, durch kurze Meldungen in den Nachrichten, durch die thematisch immer gleichen Filme und Bücher. Klischees entstanden oder wurden zementiert.

So kommen die Ergebnisse einer von mir vor kurzem zum Thema Tibet getätigten anonymen (wenn auch nicht wissenschaftlich repräsentativen) Umfrage unter 100 Personen aus den Online-Netzwerken Texttreff und Twitter nicht überraschend. Im ersten Teil sollten die Teilnehmer_innen selbständig Begriffe aufschreiben, die ihnen ad hoc zu Tibet einfielen. 79% assoziierten den Dalai Lama mit Tibet. 42% fiel China ein, 37% der Buddhismus und nur 11% das Thema Menschenrechte. Nur eine Person verband mit Tibet den Begriff „Kulturzerstörung“, und eine Person nannte „viel Geschwafel aus dem Westen“. 15 Personen nannten Buchtitel und/oder AutorInnen, wobei sich diese Nennungen lediglich auf westliche Bücher wie „Sieben Jahre in Tibet“, die Krimis von Eliot Pattison, einen Band von Tim & Struppi sowie andere westliche SchriftstellerInnen beschränkten. Tibetische AutorInnen nannte (und kannte?) niemand, obwohl einige der TeilnehmerInnen bereits in Tibet gewesen waren, teilweise mehrfach.

Im zweiten Teil waren Begriffe vorgegeben, unter denen sich die üblichen Tibet-Klischees befanden, aber auch Dinge, die nur jemand wissen konnte, der sich bereits näher mit Tibet auseinandergesetzt hatte. Ebenso befanden sich in dieser Liste Begriffe, die rein gar nichts mit Tibet zu tun haben, aber häufiger mit Asien allgemein oder bestimmten anderen asiatischen Ländern in Verbindung gebracht werden. In diesem Teil nun verbanden 93% den Dalai Lama mit Tibet, gefolgt von Mönchen (88%), Himalaya (86%), Kloster (85%) und Buddhismus (81%). Menschenrechte wurden in diesem Teil von 75% angeklickt. Prostitution, obwohl ein wichtiges Thema in der tibetischen Gesellschaft aufgrund der immer stärkeren Verbreitung von AIDS und der nicht vorhandenen Aufklärungspolitik der chinesischen Regierung, verband niemand mit Tibet. Immerhin 12% verbanden Zen-Gärten mit Tibet, obwohl diese eine japanische Tradition sind. Eine vielfältige Kultur verbanden 26% mit diesem Land und immerhin 12% klickten Literatur an.

Auch wenn man die Berichterstattung aus Tibet verfolgt, scheint es so, als dürfe nichts das Bild trüben, das wir im Westen von diesem Land haben. Es scheint, als sei der immer lächelnde, immer zu Scherzen aufgelegte Dalai Lama zum Synonym für ein ganzes Volk geworden, als sei das Volk genauso heilig wie er selbst; als sei Tibet einfach nur ein außergewöhnliches Land, das sportlich aufgelegte Reisende besuchen können; doch von dessen Elend, von dessen vielen Facetten, im Guten wie im Schlechten, bloß nichts nach außen dringen dürfe. Als dürfe außer der chinesischen Gewaltherrschaft nichts an Tibet und den Tibetern kritisiert werden. Es scheint, als hätte man vergessen, dass erst ein Diskurs Veränderung bringen kann, nicht die Lobhudelei eines Abziehbilds, das der Realität nicht entspricht.

Cover "Flügelschlag des Schmetterlings" (© Unionsverlag)
Cover „Flügelschlag des Schmetterlings“ (© Unionsverlag)

So überrascht es auch nicht, dass das Buch „Flügelschlag des Schmetterlings“, das Alice Grünfelder im vergangenen Jahr im Züricher Unionsverlag herausgebracht hat, von der breiten Masse weitgehend unbeachtet geblieben ist. Auch das Feuilleton hat dieses Buch übersehen, obwohl es eins der vielleicht wichtigsten Bücher zu Tibet ist.

Das Einzigartige und Neue an diesem Buch ist, dass es hier – ganz anders als im Großteil der Literatur über Tibet – weder um den Buddhismus, noch um die Erleuchtung am heiligen Berg Kailash geht. Es beinhaltet auch keine spektakulären Fotografien von Klöstern, Gebetsfahnen und traditionell gekleideten Nomaden auf dem Hochplateau. Alice Grünfelder hat zeitgenössische tibetische AutorInnen zu Wort kommen lassen, die in Tibet, in China und im Exil leben. Das Buch vereint Erzählungen, Essays und Gedichte zeitgenössischer tibetischer SchriftstellerInnen aus Tibet, China und aus dem Exil. Manche von ihnen, wie Tsering Öser, dürfen in China nicht veröffentlicht werden. Der Autor Alai hingegen war sogar offizielles Mitglied der chinesischen Gastdelegation auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse. Ein anderer, Jamyang Norbu, ist ehemaliger Guerillakämpfer und lebt heute im Exil in den USA. Alle haben völlig andere Lebensgeschichten und ebenso unterschiedliche Themen und Erzähltechniken.

Neu ist ebenfalls, dass dieses Buch kritische Texte beinhaltet, die nicht einzig die chinesischen Machthaber anklagen, wie es fast ausschließlich hier im Westen geschieht, sondern auch die eigene, die tibetische Gesellschaft. So schreibt Tsering Öser in ihrem Essay „Erinnerungen an eine mörderische Fahrt“ über die junge Generation der Tibeter (S. 102):

„Wie war ich nur in die Gesellschaft dieser Männer geraten, die sich selbst als die zukünftigen Herren über Tibet sahen? Dieses Land ist ihre Heimat, doch nicht einmal diese lieben sie. Sind sie erst dann zufrieden, wenn sie alles ringsum in ein Schlachtfeld verwandelt haben?“

Tsering Woeser, 2002 in Tibet (Copyright © 1998-2009, RFA. Used with the permission of Radio Free Asia, https://www.rfa.org)
Veröffentlichungsverbot & Hausarrest: die tibetische Autorin Tsering Woeser, 2002 in Tibet (Foto © 1998-2009, RFA. Used with the permission of Radio Free Asia, https://www.rfa.org)

Ihr Kollege Alai schreibt in seiner Erzählung „Blutsbande“ (S. 45):

„Mitleidige Menschen hätten in diesem Augenblick die Gewehre gesenkt. Das siegesgewisse Zeitalter aber hatte keine Verwendung mehr für Mitleid.“

Unverhohlene Kritik sowohl von wohlgelittenen, als auch von verbotenen Autor_innen.

Die Texte in dieser Anthologie stehen für die große Bandbreite der tibetischen Literatur in Stil, Form und Inhalt. Grünfelder ist damit Pionierin in einer Literaturlandschaft, die doch eigentlich alles schon einmal gesehen hat. Natürlich erscheint so ein Buch im Züricher Unionsverlag, der dafür bekannt ist, Minderheiten, kleinen Völkern eine Stimme im deutschsprachigen Raum zu geben. Doch obwohl sich der Unionsverlag spätestens seit der Herausgabe der Werke des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Machfus einen festen Platz unter den wichtigsten Verlagen im deutschsprachigen Raum erobert hat, finden seine Bücher bedauerlicherweise eher selten den Weg ins Feuilleton. So auch „Flügelschlag des Schmetterlings“.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war ansich perfekt gewählt, denn das Buch kam 2009 pünktlich zur Frankfurter Buchmesse heraus, bei der China das Gastland war. Doch die Buchmesse war für niemanden der erhoffte Katalysator, sagt Grünfelder. Nicht nur das vollkommen verunglückte Symposium im Vorfeld war symptomatisch für diese Buchmesse. Auch das Desinteresse vieler chinesischer Schriftsteller_innen am deutschen Markt, am Austausch mit deutschen Kolleg_innen sowie das Desinteresse vieler deutschen Journalist_innen an irgendetwas anderem als der ständigen Missachtung der Menschenrechte in China trugen laut Grünfelder dazu bei, dass am Ende kaum noch jemand in Deutschland über chinesische Literatur sprach. Wie viele Chancen hier vertan wurden, ein neues, ein anderes China zu präsentieren, das nicht mehr nur über die üblichen Themen und Klischees definiert wird, werden wir wohl nie wissen.

Eins überrascht jedoch an Grünfelders Buch: Obwohl sie sich selbst so sehr dagegen sträubt, und obwohl die Texte selbst keins der im Westen üblichen Klischees bedienen, befindet sich auf dem Buchumschlag ein Mönch. Ein Tibeter, erzählt Grünfelder, „sagte mir, dass er dieses

Cover "An den Lederriemen geknotete Seele" (© Unionsverlag)
Cover “An den Lederriemen geknotete Seele” (© Unionsverlag)

Mönchsbild abschreckend genug fand, um das Buch zunächst nicht kaufen zu wollen. Aber viele im Westen reagieren genau anders herum. Sie greifen erst zu einem Buch über Tibet, wenn ein Mönch auf dem Umschlag ist.“ Ein Buchhändler, der auf der Messe bei ihr gleich zehn Exemplare eines anderen Buches von ihr, „An den Lederriemen geknotete Seele“, bestellte, bestätigte dies. Er hatte selbst keins ihrer Bücher gelesen, sagt sie, doch „das Buch ginge ganz von alleine, nur weil Mönche auf dem Umschlag seien.“

Cover "Himalaya - Menschen und Mythen " (© Unionsverlag)
Cover “Himalaya – Menschen und Mythen” (© Unionsverlag)

Im Gegenzug dazu, so Grünfelder, verkaufe sich ihr Band „Himalaya – Menschen und Mythen“ nicht so gut, wahrscheinlich „weil wir da bewusst auf diese buddhistischen Symbole verzichtet haben. Und dann läuft es auf einmal nicht.“

Ein Mönch also auf dem Umschlag eines Buches, in dem es gar nicht um Mönche geht. Ein Mönch als Abziehbild eines Landes. Da stellt sich doch die Frage, ob solche Klischees gefördert werden sollten, oder ob man sich darüber hinwegsetzen muss, um möglicherweise ein Umdenken in Gang zu setzen, wenn auch vielleicht zunächst zu Lasten der öffentlichen Wahrnehmung. Grünfelder hat sich bei dieser Anthologie für Ersteres entschieden: „Ich wollte wirklich, dass das Buch unter die Leute kommt, egal wie. Nur deshalb habe ich mich für den Mönch entschieden.“ Sie hofft, dass sie es auf diese Weise jenen, die sich für Tibet generell interessieren, leichter machen kann, das Buch zu kaufen. „Man muss,“ sagt sie mit Bedauern, „diese Klischees wie Angelhaken auswerfen.“

Für die Herausgeberin ist diese Entscheidung nicht in erster Linie eine Frage des Kommerzes. Sie weiß, dass mit dem, was sie am meisten interessiert, der Realität jenseits aller Klischees, kein großes Geld zu verdienen ist. Das war nie so, und es wird wohl auch weiterhin nicht so sein. Doch sie hat die Texte für dieses Buch ganz bewusst gewählt, um endlich einmal das Klischee von Tibet zu brechen, das im Westen vorherrscht, um die literarische Vielfalt tibetischer AutorInnen und um den facettenreichen Alltag der Tibeter darzustellen, der längst den Schimmer des Exotischen abgestreift und in der grellen Realität des Heute angekommen ist. Einem Heute, das von Youtube und Handys genauso geprägt ist wie von Unterdrückung und Kulturverlust.

Ganz bewusst war auch Grünfelders Wahl des Titels „Flügelschlag des Schmetterlings“, zurückzuführen auf den „Schmetterlingseffekt“, nach dem allein der Flügelschlag eines kleinen Schmetterlings auf lange Sicht eine große Veränderung hervorrufen kann. Aus eben dieser Hoffnung heraus, mit kleinen Schritten irgendwann eine Veränderung, ein Umdenken bewirken zu können, engagiert sich Alice Grünfelder neben ihrer Arbeit als Lektorin, Herausgeberin und Literaturvermittlerin ehrenamtlich bei Festivals wie „Tibet now“, das kürzlich in Berlin Mitte eröffnet wurde. Hier fanden keine Meditationen und Vorträge zur Erleuchtung statt, sondern es wurden aktuelle Kurzfilme gezeigt, Video-Projektionen, eine Tanzperformance, eine Fotoausstellung (ohne Mönche), es gab eine Open-Mike-Veranstaltung und eine Lesung mit Grünfelder mit Texten aus „Flügelschlag des Schmetterlings“.

Und um noch deutlicher zu zeigen, dass es bei diesem Festival um das heutige Tibet ging und nicht um das Klischee, wurde einmal nicht mit etwas Buddhistischem geworben, sondern mit einem ganz „normalen“ Tibeter. Die Eröffnungsveranstaltung, so Grünfelder, war erstaunlich gut besucht. „Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet,“ sagt sie. Vielleicht hatten sich die Berliner Cineast_innen von der Berlinale zu diesem Besuch inspirieren lassen. Doch vielleicht hat auch der Tibeter auf seinem Motorrad den kleinen Schmetterlingsflügel in Gang gesetzt.

Solche kleinen Schritte werden jedoch immer schwerer zu gehen, denn das Interesse an dem Unrecht, das in Tibet geschieht, scheint immer geringer zu werden. Journalist_innen berichten nur noch selten aus dem abgeschotteten Land, wenn sie überhaupt einreisen dürfen. Die Häufigkeit der medial breit ausgeschlachteten Auftritte des in Deutschland so beliebten Dalai Lama hat ihm das absurde Image als Superstar aufgedrängt, an dem viel weniger das interessiert, für das er eigentlich steht, als das Event, die Show ansich. Wenn sich ein bekannter Schauspieler wie Hannes Jaenicke öffentlich für Tibet einsetzt, gleichzeitig aber auch für Eisbären, Haie und Orang-Utans, dann ist das großartig, denn zu wenige prominente Vorbilder beziehen eindeutig Position. Doch vielleicht ist ein solches Engagement auch ein wenig zu beliebig, um einem dieser vielen Zwecke grundlegend förderlich zu sein. Die Szene der Tibet-Unterstützer ist sehr weit verstreut, jede Gruppe geht ihre eigenen Wege, und selbst in diesen Gruppen herrscht nicht immer Einigkeit. Alice Grünfelder musste sich schon von Exil-Tibetern fragen lassen: „Woher nimmst du das Recht, ein Tibet-Festival zu organisieren? Es geht dich doch gar nichts an!“ Was sie bislang jedoch nicht davon abhalten konnte, sich dennoch weiter zu engagieren.

Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass sich so manche Firma gerne auch finanziell an bestimmten Aktionen wie Ausstellungen, Konzerten oder Festivals beteiligen würde, doch besteht vielfach die Sorge, durch ein Engagement für Tibet die geschäftlichen Beziehungen zu China aufs Spiel zu setzen, denn China setzt oft nicht als erstes auf Dialog, sondern auf Konfrontation. Dabei ist sich Grünfelder ganz sicher, dass es auf westlicher Seite „nur mangelnder Mut, und auf chinesischer Seite nur viel Säbelrasseln“ sei. Was immerzu vergessen werde, sei, dass China vom Außenhandel abhängig sei. „Wir,“ betont sie, „sind interessant für China, denn ihre Waren überschwemmen unsere Märkte. Wenn wir die einmal abschließen und von unserer Seite drohen würden, dann müsste China sehen, wo es mit seinen Waren bleibt.“

Grünfelder spricht damit aus, was viele denken, was jedoch kaum jemand wagt in die Tat umzusetzen, weder im Kleinen, noch auf Regierungsebene. „Es ist nicht nachzuvollziehen,“ sagt Grünfelder, „warum der Westen immer sofort einknickt, wenn China mit Drohgebärden kommt. Und China wird immer rabiater, sie machen vor nichts mehr Halt.“ In der Schweiz, die vor kurzem dafür gestimmt hat, zwei Uiguren aus dem umstrittenen Lager von Guantánamo aufzunehmen, gab es vorab die üblichen Interventionsversuche von chinesischer Seite. Doch einige Schweizer_innen drehten den Spieß diesmal um, berichtet Grünfelder: „Zu recht echauffierten sich Mitglieder im Bundesrat, warum China sich jetzt in die inneren Angelegenheiten der Schweiz einmische.“ Solche Töne hört man aus Deutschland nicht. Es bleibt bei ängstlichen Äußerungen von Regierungsseite mit den immer gleichen inhaltsleeren, folgenlosen Floskeln, und die Wirtschaft träumt weiter vom großen Profit in China.

So bleibt der unermüdlichen Alice Grünfelder wohl weiterhin einzig der unentwegte Wink mit dem Schmetterlingsflügel. Es bleibt ihr die Hoffnung, mit Festivals und Büchern die von all den Klischees und Gängeleien ermüdeten, aber dennoch potentiell Interessierten verstärkt auf das Unrecht auf dem Dach der Welt aufmerksam zu machen und ihnen das andere Tibet näher zu bringen. Das Tibet, das eben nicht nur aus Butterkerzen und dem Dalai Lama besteht, sondern aus Menschen, aus Künstler_innen, aus Literat_innen und aus einer sich ständig verändernden Kultur zwischen Tradition und Moderne, in der es noch sehr viel zu entdecken gibt.

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Wer Interesse hat, mehr aus Tibet und China zu lesen: hier kann eine Liste mit Literaturtipps von Alice Grünfelder (pdf) heruntergeladen werden.

Wer mehr über die Situation in Tibet wissen möchte, abseits dessen, was ab und zu in den Zeitungen zu lesen ist, kann bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, der International Campaign for Tibet und der Tibet Initiative viel erfahren.

Bücher von Alice Grünfelder als Autorin:

Die Wüstengängerin“ (Roman, 2018)

Wird unser Mut langen? Ziviler Ungehorsam für den Frieden“ (Sachbuch, 2019)

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7 Gedanken zu „Butterkerzen und Schlachtfelder“

  1. A propos Klischee. In ihrem Artikel in der NZZ Online schreibt Birte Vogel über Tibet: “Denn was verbinden wir schon mit diesem kleinen Land?”.
    Tibet ist 3mal so gross wie Irak oder etwa so gross wie Frankreich und Deutschland zusammen.

  2. Sie haben ganz recht: geografisch gesehen ist Tibet sehr groß. Doch in meinem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung ging es nicht um die Geografie, sondern um Tibets Status – und der ist wesentlich geringer als bspw. der der geografisch wesentlich kleineren Schweiz, von einem Vergleich mit dem “Riesenreich” China mal ganz abgesehen. So ist “klein” in diesem Artikel übertragen zu verstehen und hat nichts mit den dort angesprochenen Klischees zu tun.

  3. Tibet ist ein sehr schwieriges und kompliziertes Thema. Man darf bei dem ganzen Leiden der Tibeter und der Propaganda von beiden Seiten nämlich nicht vergessen, dass auch die Chinesen unter der Herrschaft der KPCh gelitten haben und das noch immer tun. Immer wieder erstaunlich finde ich jedoch, wie wenig Tibet und China eigentlich ausser einem gemeinsamen Leiden verbindet.

    Zu ihrer Aussage: “Als dürfe außer der chinesischen Gewaltherrschaft nichts an Tibet und den Tibetern kritisiert werden. “, muss darauf hingewiesen werden, dass es durchaus auch tibetkritische Autoren gibt, wie zum Beispiel Georg Blume. Meiner Erfahrung nach sind es weniger die Autoren als die Redaktionen, welche nur bestimmte Bilder sehen wollen. Da ist aber Tibet oder China, wie Sie richtig bemerkt haben, kein Einzelfall…

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