Sie ist Milchbäurin, Bürgermeisterin, stellvertretende CDU-Vorsitzende der Grafschaft Bentheim, Kreistagsabgeordnete, Landfrau, Ehefrau, Mutter dreier erwachsener Kinder, Großmutter von bald sieben Enkelkindern, und dann war sie noch vor gar nicht langer Zeit Vorstandsmitglied des Landfrauenverbandes und des Frauenrates. Wie schafft sie das bloß alles? Nur mit ganz viel Leidenschaft, sagt Charlotte Ruschulte. Und ein bisschen verrückt muss man sein.
Kaum setzt sie sich hin, klingelt das Telefon. „Das geht ständig so, seit ich Bürgermeisterin bin“, sagt sie, entschuldigt sich und verschwindet für ein paar Minuten im Nebenzimmer. Auch wenn sie jemanden beim Einkaufen oder bei der Sparkasse in Ohne trifft: immer wird schnell was mit der Bürgermeisterin besprochen. Leben und Arbeit sind bei Charlotte Ruschulte gar nicht voneinander zu trennen.
Mal hat irgendwer etwas kaputtgefahren oder an einer falschen Stelle abgelagert, mal steht ein Schild ein paar Meter zu weit links oder rechts oder jemand hat eine Idee zur Festigung der Dorfstruktur, die er eben loswerden möchte. Das alles auf dem kurzen Dienstweg zu besprechen, liegt Ruschulte. Deshalb freut sie sich sehr, dass die Menschen ihr Vertrauen entgegenbringen und es ihr zutrauen, etwas verändern zu können. Allerdings ist da auch noch das Bürokratische, das so ein Amt mit sich bringt, und – sie seufzt – nein, dafür ist sie nicht so recht geschaffen.
Die 55-Jährige mit dem asymmetrischen blonden Kurzhaarschnitt und dem westfälisch-gerollten R ist nicht weit von Ohne an der Landesgrenze von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Ihre Kindheit auf dem elterlichen Hof im Kreis Steinfurt war von der Arbeit mit den Tieren und der damit einhergehenden Verantwortung geprägt; sie kannte von früh an die Nachteile, aber auch das Schöne des Landlebens. Als sie sich dann für einen Beruf entscheiden musste, wusste sie sofort: es musste ein Landwirtschaftsstudium sein.
„Aber das war 1973“, sagt sie, „und für eine Frau in so einem Beruf war das noch ein bisschen zu früh. Der war damals noch mit extrem schwerer körperlicher Arbeit verbunden. Außerdem kannte ich da schon meinen Mann und wollte nicht noch ein paar Jahre zum Studium weggehen.“ Stattdessen ließ sie sich zur Hauswirtschaftsmeisterin in der Landwirtschaft ausbilden.
Nach der Hochzeit bewirtschaftete sie mit ihrem Mann zusammen von Ohne aus ihren elterlichen Betrieb noch mit. Auf diese Weise konnte der Hof in der Familie bleiben. Ruschulte zog drei Kinder groß, bildete mehrere Lehrlinge aus und ist auf dem Milchhof für das Herdenmanagement verantwortlich: für die Gesundheit der Tiere, ihre Fütterung, Besamung, die Aufzucht der Kälber, die Haltungsbedingungen und zahllose andere Dinge. Zu Anfang hatten die Ruschultes 25 Kühe, heute sind es 200, Tendenz steigend.
„50 oder 60 Kühe sind ansich schon eine gute Anzahl“, sagt Ruschulte. „Aber wenn ich mehr habe und jemanden zusätzlich dafür einstellen muss, dann habe ich auch mal die Möglichkeit zu sagen: ich bin mal kurz weg.“ Was nicht heißt, dass Charlotte Ruschulte je in ihrem Leben ausgiebig Urlaub gemacht hätte. Sie muss erst eine Weile nachdenken und sagt dann: „Ich kann mich nicht erinnern, mal vierzehn Tage weggewesen zu sein. Meistens schaffen wir es nur mal für zwei oder drei Tage rauszukommen.“
Für viele Menschen wäre das ein Alptraum. Ganz anders bei Ruschulte. „Ich brauch gar keinen Urlaub“, sagt sie und lacht. „Ich hab doch so viele andere Aktivitäten, die mich ablenken, dass ich gar nicht weg muss.“
Zuerst wurde sie Ende der 1980er Jahre aktives Mitglied bei den Landfrauen und schließlich auch in den Vorstand gewählt. „Das Ländliche ist mir schon immer eine Herzensangelegenheit gewesen“ sagt sie. „Es braucht ideelle Befürworter, heute noch mehr als früher. Und ich fühlte mich bei den Landfrauen einfach wohl.“ Doch nicht nur das. „Viele wissen gar nicht, wie notwendig die Arbeit der Landfrauen ist, um die typischen ländlichen Strukturen zu erhalten und zu fördern. Sicher, es gibt einige Frauen, die nur Kaffee trinken und Vorträge hören wollen, aber es gibt auch viele, die den ländlichen Raum mit all ihrer Kraft stützen und erhalten wollen.“
Denn der ist gefährdeter, als es auf den ersten Blick erscheint. Die landwirtschaftlichen Betriebe haben stark abgenommen, es gibt kaum noch ländliche Arbeitsplätze, Dörfer verlieren ihren Charakter und aufgrund veränderter Verwaltungsstrukturen ihre Selbständigkeit. Die Dörfer überaltern, ihre Infrastruktur wird immer weiter reduziert und die Menschen verlieren das Zusammengehörigkeits- und Verantwortungsgefühl.
Als Charlotte Ruschulte dann 1996 in den Kreistag gewählt wurde, stand der Erhalt der ländlichen Strukturen im Mittelpunkt ihres Programms. „Bis dahin dachte ich, politische Arbeit liegt mir gar nicht. Ich bin eher ruhig und sag nur was, wenn’s wirklich nötig ist. Aber ich hab bei den Landfrauen gelernt, wie Politik und Lobbyarbeit funktionieren. Das konnte ich jetzt gut einbringen.“
Über die Landfrauen kam sie schließlich auch zum Frauenrat, war bis vor kurzem auch dort Vorstandsmitglied. Doch weil ihr die Höfe und das Dorf das Wichtigste sind, setzt sie sich nun seit einem Jahr in erster Linie als Bürgermeisterin in einem parteibuch-unabhängig agierenden Rat für ihr 600-Seelen-Dorf ein.
Selbst in diesem kleinen Rahmen sieht sie jedoch, wie schwer es ist, Frauen dazu zu bewegen, sich politisch zu betätigen. Außer ihr gibt es lediglich eine weitere Frau in einem Gemeinderat von neun Personen. „Dabei ist es sehr wichtig, dass Frauen sich beteiligen“, sagt Ruschulte. „Denn sie haben eine ganz andere Sichtweise auf politische Vorgänge und sind viel näher an der Alltagsbewältigung als Männer. Nach dem Krieg haben sie sich noch sehr engagiert, für Frauenrechte gekämpft, für die Gleichberechtigung, für ein eigenes Konto. Aber heute muss man Frauen ja mit Politik gar nicht erst kommen.“
Warum ist das so? Sie denkt lange nach. „Vielleicht weil alles so selbstverständlich geworden ist, weil das Leben so bequem ist. Es herrscht ja jetzt allgemein so eine Zuschauermentalität: lass die anderen mal machen. Man braucht auch viel Selbstbewusstsein, viel Rückgrat. Vielleicht ist die Politik zu undurchsichtig geworden. Möglicherweise sind Frauen aber auch nur empfindlicher bei Kritik, und an der mangelt es ja nicht.“
Und deshalb, glaubt sie, braucht es vor allem eins, um sich für politische Arbeit zu begeistern: „Man muss eine Leidenschaft für das haben, was man tut, und es muss Spaß machen. Man muss sich selbst treu bleiben und sich nicht verkaufen.“ Sie springt auf, weil das Telefon jetzt schon zum dritten Mal klingelt.
Als sie zurückkommt, sagt sie: „Manchmal denke ich, wir Landwirte kennen diese Bequemlichkeit gar nicht. Wir müssen ja von Natur aus für unseren Standort kämpfen. Wir können unsere Flächen nicht einfach zusammenrollen, untern Arm nehmen und sagen: Jetzt gehen wir mal woanders hin. Darum kämpfe ich auch so um unseren ländlichen Raum. Ich bin nicht bange davor, dass das Arbeit macht. Aber irgendwann“, fügt sie hinzu und lacht, „müssen auch die Jüngeren mal ran. Ich mach das, so lange ich kann. Aber eines Tages möchte ich auch noch mehr Zeit mit meinem Mann genießen.“
Der muss aus gesundheitlichen Gründen jetzt sehr kurztreten, so dass noch viel Arbeit auf Charlotte Ruschulte wartet, bis eines Tages ihr Sohn den Hof vollständig übernehmen wird. Dennoch, Zeit muss auch jetzt sein für ihr aktuelles Lieblingsprojekt: sie ist Mitglied der Bundeskommission „Unser Dorf hat Zukunft“.
„Das ist zu schön!“, sagt sie, und ihr Gesicht leuchtet auf. „Zu sehen, auf wie viele mannigfaltige Arten Menschen in Dörfern zusammenleben, arbeiten, aus welchen Gegebenheiten heraus, mit welchen geologischen Möglichkeiten, warum was so gelaufen ist und nicht anders. Ein bisschen verrückt ist das schon.“ Sie lacht. „Aber wenn man für irgendwas eine Leidenschaft hat, muss man auch ein bisschen verrückt sein.“